Wien/Essen (pts010/02.12.2016/11:00) – „Wir sehen einem wissenschaftlichen Großereignis entgegen“, kündigte Univ.-Prof. Dr. Robert Pirker, Universitätsklinik für Innere Medizin I, MedUni Wien/AKH Wien, heute bei einer Pressekonferenz im Vorfeld des Lungenkrebs-Weltkongresses an. Rund 6.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus aller Welt werden zur IASLC 17th World Conference on Lung Cancer erwartet, die von 4. bis 7. Dezember in Wien stattfindet. Dem Kongressmotto „WCLC 2016 – Together against Lung Cancer“ entsprechend wird dabei der multidisziplinären Zusammenarbeit breiter Raum gewidmet. Was die Delegierten aus aller Welt erwartet, sind „bahnbrechende Neuigkeiten aus der Prävention, Diagnostik und Behandlung“, so Prof. Dr. Fred Hirsch, Vorstand der International Association for the Study of Lung Cancer (IASLC).
Das Konferenzthema ist von größter Relevanz: Lungenkrebs stellt nach wie vor nicht nur die häufigste Krebserkrankung dar, sondern ist auch für die meisten Krebs-bezogenen Todesfälle verantwortlich. Laut der im Vorjahr publizierten GLOBOCAN-Studie werden weltweit jährlich 1,82 Millionen neue Fälle von Lungenkrebs diagnostiziert, das sind 12,9 Prozent aller Krebsfälle. 1,6 Millionen Menschen jährlich sterben daran, das sind nahezu 20 Prozent aller durch Krebs verursachten Todesfälle.
„4.400 Todesfälle jeden Tag — das ist als würden täglich zehn vollbesetzte Jumbo-Jets vom Himmel fallen“, macht Prof. Pirker das Ausmaß deutlich. „Als Arzt kann ich nur schwer nachzuvollziehen, mit welcher Gelassenheit die Gesellschaft und politischen Repräsentanten diese Tragödie unseres Jahrhunderts hinzunehmen scheinen.“
Großteil aller Lungenkrebsfälle wäre durch Tabakkontrolle vermeidbar
Aus diesem Grund widmet der WCLC 2016 der Prävention diesmal besonders breiten Raum. „Als weltweit größte Organisation, die sich dem Lungenkrebs verschrieben hat, werden wir nicht müde, eine Verbesserung der Präventionsmaßnahmen zu fordern und zu fördern“, kündigt IASLC-Vorstand Prof. Hirsch an.
Die wirkungsvollste Vorsorgemaßnahme ist seit langem bekannt: Weltweit ist das Rauchen für den Tod von mehr als sechs Millionen Menschen jährlich verantwortlich. In Zentraleuropa betreffen 85 Prozent aller Lungenkrebs-Fälle Raucher oder ehemalige Raucher. „Es gibt es keine andere Krankheit, die sich durch einfache gesetzliche Rahmenbedingungen so dramatisch eindämmen ließe“, fordert Konferenzpräsident Prof. Pirker eine deutlich striktere Tabakkontrolle.
Frauen und Passivraucher massiv betroffen
Wie eine auf dem WCLC präsentierte systematische Analyse von 17 Publikationen zeigt, sind Frauen durch die verschiedenen Karzinogene im Tabak noch stärker gefährdet als Männer. Das zeigt sich auch daran, dass sie zum Zeitpunkt der Diagnose im Schnitt jünger sind als Männer. Laut Statistik Austria rauchen aktuell 1,8 Millionen – also fast ein Viertel der über 15-Jährigen in Österreich – täglich. Bei Männern sind es 27, bei Frauen aber auch bereit 22 Prozent – und damit doppelt so viele wie in den 1970er Jahren.
Parallel dazu hat sich auch die Zahl der Lungenkrebspatientinnen in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Inzwischen erkranken hierzulande jährlich rund 1.600 Frauen an Lungenkrebs. Laut einer im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellten Krebsprognose ist bis zum Jahr 2030 mit einer weiteren Verdoppelung zu rechnen. Dann wäre die Anzahl der jährlich neu an Lungenkrebs erkrankten Frauen sogar höher als jene der Männer.
Inzwischen besteht auch kein Zweifel mehr daran, dass Passivraucher allzu oft das Schicksal ihrer rauchenden Mitmenschen teilen: Wer Zigarettenrauch ausgesetzt ist, hat im Vergleich zu Nichtrauchern ein um 20 Prozent erhöhtes Lungenkrebsrisiko.
Verdoppelte Zigarettenpreise würde ein Drittel vom Rauchen abhalten
Internationale Beispiele, wie sich der Tabakkonsum wirksam eindämmen lässt, gibt es inzwischen genug. So wird etwa der Präsident von Uruguay, Dr. Tabaré Vázquez, auf dem WCLC über die Erfahrungen mit einem der weltweit strengsten Tabakgesetze berichten. Das Land hat erst im Sommer einen von Philip Morris angestrengten Prozess vor einem internationalen Schiedsgericht gewonnen: Die Forderung des Tabakmultis nach Schadenersatz wurde zurückgewiesen.
Als wirkungsvollste Maßnahme hat sich eine rigorose Erhöhung der Zigarettenpreise herausgestellt. „Würde man die bestehenden Preise durch die Erhöhung der Tabaksteuern verdoppeln, würde allein dadurch die Zahl der Raucherinnen und Raucher um ein Drittel sinken“, so Prof. Pirker. „Das Argument, dadurch gingen dem Staat wichtige Einnahmen verloren, ist nicht nur zynisch sondern auch falsch. In Wahrheit würden Gesundheit und Staatshaushalt gleichermaßen davon profitieren.“
Gezieltes Screening kann Lungenkrebssterblichkeit um 20 Prozent senken
„Gerade weil wir in der Prävention nachhinken, muss es unser Ziel sein, auftretende Lungentumore so früh wie möglich zu erkennen“, erklärt PD Dr. Helmut Prosch von der Universitätsklinik für Radiodiagnostik, AKH/MedUni Wien. „Derzeit werden aber nur rund 20 Prozent der Karzinome in einem frühen und gut heilbaren Stadium entdeckt.“
Mit Spannung erwarten die Experten deshalb jüngste Erkenntnisse und Diskussionen über Screening-Programme zur Früherkennung. So hat der US-amerikanische „National Lung Screening Trial“ schon 2011 gezeigt, dass sich bei starken, über 55-jährigen Rauchern durch ein Screening mit einem Niedrig-Dosis-Spiral-CT die Lungenkrebsmortalität um 20 Prozent senken lässt.
Ob sich diese Ergebnisse auf Europa, wo es bislang keine vergleichbaren Programme gibt, übertragen lassen, wird auf dem WCLC diskutiert werden. Anders als bei anderen Früherkennungsprogrammen wäre es nicht sinnvoll, möglichst große Bevölkerungsgruppen sondern nur Personen mit hohem Lungenkrebsrisiko zu erfassen. PD Prosch: „Untersucht werden sollten nach derzeitigem Wissen nur Raucher über 55 Jahre mit mindestens 30 sogenannten Packungsjahren sowie ehemalige Raucher, die innerhalb der letzten 15 Jahre aufgehört haben.“ In diesen Fällen sei dann aber eine engmaschige Kontrolle über mindestens drei Jahre in jährlichen Intervallen sinnvoll.
Viele Behandlungsfortschritte
Deutlich erkennbare Fortschritte gibt es bei den modernen Lungenkrebs-Therapien. Noch vor wenigen Jahren galten Patienten mit lokal fortgeschrittenen Lungentumoren als todgeweiht. „Vor zehn Jahren schätzten wir uns glücklich, wenn fünf bis zehn Prozent dieser Patienten überlebten“, so Dr. Wilfried Eberhardt vom Lungenkrebszentrum am Westdeutschen Tumorzentrum in Essen. „Heute erlauben uns multimodale Therapieansätze die intelligente Kombination von systemischer Chemo- und lokaler Strahlentherapie, die mit oder ohne chirurgische Eingriffe zum Einsatz kommt. Damit überleben 30 bis 40 Prozent aus dieser Patientengruppe, so dass wir erstmals sagen können, dass auch Lungenkrebs heilbar geworden ist.“
Möglich wurden diese Fortschritte nicht zuletzt durch die enorme Weiterentwicklung der Strahlentherapie. Heute kann viel zielsicherer und effizienter bestrahlt werden als noch vor wenigen Jahren. Zudem werden die chirurgischen Eingriffe immer minimalinvasiver. „Mit den neuen Operationstechniken gelingt es zunehmend Organ-sparend zu operieren. Das ist für die Patienten nicht nur weniger belastend sondern auch für die weitere Prognose wichtig“, so PD Eberhardt. „All diese Entwicklungen machen optimistisch. Die neuen Möglichkeiten der Immuntherapie dazu genommen, dürfen wir hoffen, dass es bald gelingen wird, mehr als 50 Prozent der Fälle mit lokal fortgeschrittenem Lungenkrebs zu heilen.“
Molekulardiagnosen ermöglichen unkontrolliertes Zellwachstum zu unterbinden
Nicht weniger vielversprechend ist ein weiterer Behandlungsansatz, der ebenfalls auf den neuen molekularbiologischen Möglichkeiten basiert. Ziel ist es dabei, bestimmte Mutationen in den Tumorzellen ausfindig zu machen, die den Einsatz spezifisch wirksamer Medikamente ermöglichen. „Nach heutigem Stand des Wissens finden wir bei immerhin schon jedem vierten Patienten Tumoren mit solchen Merkmalen“, erklärt Prof. Pirker.
Bei zwölf Prozent der Patienten handelt es sich dabei um Veränderungen im sogenannten Epidermal Growth Factor Receptor, kurz EGFR. Über diese Proteine gelangen wachstumsfördernde Botenstoffe ins Zellinnere, die nicht nur das Zellwachstum stimulieren sondern auch den natürlichen Zelltod verhindern. Durch die Verabreichung sogenannter Tyrosinkinasehemmer lässt sich das Andocken und Eindringen dieser Botenstoffe verhindern. „Damit gelingt es in 60 Prozent, der für eine solche Behandlung in Frage kommender Fälle, das Fortschreiten der Erkrankung für zumindest ein Jahr hinauszuschieben“, fasst Prof. Pirker zusammen.
„Wohin diese Entwicklung führen wird, können wir heute noch gar nicht abschätzen“, erklärt der Essener Experte Dr. Eberhardt. „Ich kann an alle Verantwortlichen in der Politik und im Medizinbetrieb nur appellieren, weitere Forschungsarbeiten in dieser Richtung zu ermöglichen und zu fördern.“
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