Wien (OTS) – Ein sensationeller Fund in einem Wüstenkloster brachte im 19. Jahrhundert größere Klarheit über die biblischen Texte – in tausenden Manuskripten und Fragmenten wurden diese überliefert. Dabei weichen die Handschriften durchaus voneinander ab. Was die Frage aufwirft: Wie nahe sind unsere heutigen Bibelübersetzungen am Urtext? Liegen uns stark veränderte Texte vor? Im 19. Jahrhundert, als man auf Abweichungen bei der Schriftüberlieferung stärker aufmerksam wurde, war diese Fragestellung aufrüttelnd. Sie führte zu einer regelrechten Jagd von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern auf möglichst alte biblische Handschriften. In der neuen zweiteiligen „kreuz und quer“-Dokumentation „Die Bibel-Jäger“ von Tilman Remme (ORF-Bearbeitung: Rosemarie Pagani-Trautner) heftet sich der Archäologe und Historiker Jeff Rose am Dienstag, dem 9. und 16. August 2022, jeweils um 22.35 Uhr in ORF 2 an die Fersen der Forscher/innen bei ihrer Spurensuche nach beschriebenen Papyrus- und Pergamentstücken in Ägypten und Syrien. Einer von ihnen war der deutsche Bibelwissenschafter und evangelische Theologe Konstantin von Tischendorf. Nach Hinweisen in Kairo brach er 1844 mit einer Kamel-Karawane zum entlegenen Katharinenkloster in der Wüste Sinai auf. Nach tagelanger Reise und unermüdlichen Nachforschungen im Kloster machte er schließlich eine sensationelle Entdeckung: Er stieß auf die – unter den Mönchen bis dahin nicht beachtete – älteste umfassende Handschrift des Alten und Neuen Testaments. Unter dem Namen „Codex Sinaiticus“ wurde das gebundene Manuskript weltberühmt. Der Codex, der nach verschlungenen Wegen heute in der British Library in London aufbewahrt wird, gehört zu dem sehr verlässlichen „Alexandrinischen Texttypus“ der Bibelüberlieferung. Somit gilt der „Sinaiticus“ als einer der wichtigsten biblischen Textzeugen – er wird ins 4. Jahrhundert datiert. Was bei der Publikation durch Tischendorf damals viele verstörte: Der Codex Sinaiticus bot – neben anderen Textabweichungen zu den üblichen Bibelübersetzungen – einen kürzeren Schluss des ältesten der vier neutestamentlichen Evangelien: Nach der Handschrift endet das Markusevangelium nicht mit den Erscheinungen des auferstandenen Christus vor den Aposteln, sondern mit den Frauen, die nach der Auferstehungsbotschaft, die sie von einem Engel im leeren Grab erhalten, mit Angst und Entsetzen fliehen. Dieser anstößige Schluss wird in der Bibelwissenschaft bis heute diskutiert. Am wahrscheinlichsten gilt, dass dieses abrupte Ende tatsächlich der ursprüngliche Schluss des Markusevangeliums war, der erst später ergänzt wurde. Tischendorfs Leistungen ermutigten eine neue Generation von „Bibel-Jägern“, ebenfalls nach Ägypten zu reisen. Darunter waren auch Zwillingsschwestern von der schottischen Westküste: Agnes und Margaret Smith stammten aus einer presbyterianischen Familie und genossen die beste Ausbildung – vor allem in Cambridge. Ausgerüstet mit Foto-Equipment zogen auch sie auf die Sinai-Halbinsel. Doch in den 1880er Jahren war es fast unmöglich, als Frau – noch dazu mit protestantischem Bekenntnis – ein orthodoxes Männerkloster zu betreten. Mehrere Tage mussten die Schwestern mit ihrem Tross vor dem Katharinenkloster ausharren, ehe die Mönche Vertrauen fassten und sie einließen. Doch die Mühe hatte sich gelohnt: Sie stießen zunächst auf ein altes Manuskript mit frommen Texten. Unter dieser Handschrift trat schließlich eine noch viel ältere zutage. Weil Schreibmaterial teuer war und man genug Bibeln im Kloster besaß, hatten Mönche Jahrhunderte zuvor den biblischen Text mit damaligen Mitteln gelöscht und mit Texten von Kirchenvätern überschrieben. Nach Entdeckung dieses sogenannten Palimpsests wurde die Entzifferung der ursprünglichen Bibelhandschrift in Aramäisch – der Sprache Jesu und seiner Jünger – in Europa zur Sensation. Der altsyrisch-aramäische Codex gilt heute zu den bedeutenden neutestamentlichen Textzeugen. „Die Bibel-Jäger“ ist eine spannende filmische Rekonstruktion der Suche nach der historischen Authentizität der Bibel.
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